Zwei Schwalben machen vielleicht keinen Sommer, aber möglicherweise einen leckeren Schwalbeneintopf. Soll heißen: Start-Ups kommen und gehen, nur einige wenige schaffen den großen Exit und verkaufen mit reichlich Gewinn — Business as usual. Just diese Woche allerdings scheinen sich die Exitus* meiner Lieblings-Services zu häufen. Okay, häufen mag der falsche Ausdruck sein — eigentlich waren es nur zwei Wölkchen in der großen Cloud, denen ich durchaus die eine oder andere Träne nachweine. RIP XMarks + Bloglines!
Das allein wäre zwar Grund genug für ein bedauerndes Status-Update auf Facebook, aber doch nicht für einen ganzen, ausgewachsenen Blogbeitrag samt Fußnote und Zwischenüberschriften, möchte man meinen. Aber da steckt noch mehr dahinter, denn die Fazits der beiden Unternehmen zeigen verblüffende Parallelen, die eine meiner vagen Vermutungen bestätigen: wir erleben nicht die platzende Dotcom-Blase reloaded, sondern einen tiefgreifenden Wandel in der Aufmerksamkeitsökonomie: Start-Ups 2.0 beschränken ihre Business-Modelle nicht mehr auf den virtuellen Raum, sondern verknüpfen Social Media auf smarte Weise mit der analogen Welt. Klingt abstrakt? Lassen Sie mich ein wenig ausholen.
XMarks
Image may be NSFW.
Clik here to view.Bookmarks — für mich ein Reizthema. Man will ja einfach nur Internetadressen zur späteren Verwendung irgendwo abspeichern und dort gut ausgehoben wissen! Ist aber nicht so simpel, wie’s klingt, wie Heavy Surfer wissen: klar hat jeder Browser eine Bookmarkverwaltung eingebaut, natürlich gibt’s seit der Frühzeit des Web 2.0 Cloud Bookmarking Services wie Delicious. Die haben für mich nur leider nie funktioniert — ich will meine Mauswege nun mal kurz halten und nicht erst eine Drittseite aufrufen müssen. Solche Services sind äußerst praktisch für kollaborative Link-Recherchen, als Back-Up Lösung und für den Not-Zugriff fern der Heimat (oder im Internet-Café um die Ecke), aber eben keine befriedigende Lösung für die Standardnutzung.
Nun funktionieren die Bookmark-Manager der diversen Browser für sich allein genommen ganz famos. Aber jeder, der regelmäßig mehrere Browser parallel im Einsatz hat und/oder schon mal bei der Neuinstallation des Betriebssystems aufs Bookmark-Backups vergaß, kennt die Schwächen dieses Systems.
Enter XMarks: die Software startete als Firefox-Plugin und hieß damals noch Foxmarks, inzwischen ist das Plugin für FF, Chrome und Internet Explorer verfügbar. XMarks synchronisiert Bookmarks zwischen verschiedenen Rechnern *und* Browsern und hat sich bei mir in den letzten Jahren im harten täglichen Surf-Betrieb als perfekte “install and forget” Lösung bewährt: nach der Erstinstallation holt man sich einmalig die Bookmarks vom Xmarks-Server ab (dazu ist eine Registrierung erforderlich). Hinfort synchronisiert XMarks im Hintergrund alle Bookmarks und Ordner — egal, auf welchem Rechner/Browser man Lesezeichen neu anlegt, löscht oder editiert, alles bleibt auf aktuellem Stand, synchronisiert wird im Hintergrund.
Für mich hat XMarks ein Problem gelöst, das mich jahrelang genervt hat, und tausenden ging’s genauso wie mir. Traurig, aber wahr: das reicht nicht, wie ein überraschendes Mail der Betreiber gestern mitteilte:
Dear Xmarks User,
We’ve always said we won’t email you unless it’s important; this is one of those occasions:
Xmarks will be shutting down our free browser synchronization services on January 10, 2011. For details on how to transition to recommended alternatives, consult this page.
ABER: es gibt keine wirklichen Alternative! Wie die Shutdown-Page zeigt, existieren zwar für alle Browser Insellösungen, aber mit dem Ende von XMarks ist’s vorbei mit der bequemen Cross-Browser-Synchro im Hintergrund.
Da gibt’s also ein Produkt mit einer “unique selling proposition”, einer riesigen Zahl zufriedener User und trotzdem sehen die Betreiber kein Licht am Ende des Tunnels. Die Hintergründe erklärt ein ausführliches Posting am Corporate Blog: End of the Road for Xmarks. Ich empfehle jedem Start-Up-Gründer und Betreiber dringend die Lektüre dieser lehrreichen Geschichte eines ungewöhnlichen Scheiterns. Todd Agulnick, einer der XMarks Gründer, beschreibt, warum es unmöglich war, ein perfekt funktionierendes und beliebtes Service zu monetarisieren. An Ideenlosigkeit oder Engstirnigkeit lag’s gewiss nicht, wie dieses Zitat zeigt:
One of the unseen benefits of the new system was that it enabled us to anonymize, extract, and aggregate bookmark data. So we dove into that and started looking at what products we might be able to deliver powered by the “corpus” of what would soon be 100 million bookmarks. The first thing we built was a search engine. It turned out amazing results, but only for certain types of queries. It was terrible at finding facts. But if you were looking for the websites in a particular category, the results were shockingly complete and entirely spam-free. Looking for the list of all auto manufacturers? Or presidential libraries? Or art supply sites? A casual comparison of our results with those of the major search engines would convince you that we were on to something.
We recruited a group of non-technical subjects to do a usability test, and it flopped. Sit people in front of a search box and ask them to test it, and their first query is their own name. #FAIL. It turns out that with the exception of people doing market research, consumers using search are not typically looking for an authoritative list of sites within a category; they’re looking for an answer to a specific question. Undaunted, we tested some variants of the basic search idea, including a version where we inserted our results into the Google search results page. The verdict from users: too complicated.
Todd betont in seinem Blogbeitrag, dass die Erfahrungen und Learning aus dem Projekt immens waren, dass es aber nie gelangt, die Popularität des Services in harte Währung zu verwandeln. Mich wundert’s allerdings, dass XMarks nicht mal probiert hat, sich über Premium-Accounts zu finanzieren — ich bin sicherlich nicht der einzige, der sofort 10 Dollar im Jahr für die weitere Nutzung zahlen würde. Schade drum!
Update vom 4.11.2010: Erfreuliche Neuigkeiten — wie’s aussieht, hat XMarks einen Käufer gefunden, der den genialen (und einzigartigen Service) weiterbetreiben will.
Bloglines
Bei den RSS-Readern verhält sich’s ähnlich wie bei den Suchmaschinen: es gab mal Applikationen wie Sand am Meer, aber irgendwann wechselten ganz einfach alle zu Google, in diesem speziellen Fall zum Google Newsreader. Der ist ohne Frage ausgesprochen gut gemacht, funktioniert problemlos auf Handys und bringt so ziemlich jedes erdenkliche Feed-Verwaltungs-Tool sowie einige nette Gadgets (Recommendation API, Follow-Logik etc.) mit.
Image may be NSFW.
Clik here to view.
Der einzige Grund, warum ich Bloglines zum schnellen Feed-Scannen bevorzugt habe, lag in der Optik: so gut Big G’s Applikation funktioniert, ich finde sie einfach potthässlich. Das Bloglines-Interface wirkt einfach hübscher, auch wenn ich von den Zusatz-Funktionen wie Clippings und Playlists kaum Gebrauch gemacht habe.
Wie am Ask.com Blog nachzulesen ist, will man sich zukünftig voll und ganz auf den Frage-Antwort Service konzentrieren. Spannende finde ich, dass selbst RSS-Aggregatoren mittlerweile die Dominanz der Big 3 deutlich spüren:
When we originally acquired Bloglines in 2005, RSS was in its infancy. The concept of “push” versus “search” around information consumption had become very real, and we were bullish about the opportunity Bloglines presented for our users.
Flash forward to 2010. The Internet has undergone a major evolution. The real-time information RSS was so astute at delivering (primarily, blog feeds) is now gained through conversations, and consuming this information has become a social experience. As Steve Gillmor pointed out in TechCrunch last year, being locked in an RSS reader makes less and less sense to people as Twitter and Facebook dominate real-time information flow. Today RSS is the enabling technology – the infrastructure, the delivery system. RSS is a means to an end, not a consumer experience in and of itself. As a result, RSS aggregator usage has slowed significantly, and Bloglines isn’t the only service to feel the impact.. The writing is on the wall.
Bloglines.com wird ab 1. November 2010 nicht mehr erreichbar sein — wer die eigene Feed-Sammlung exportieren möchte, kann bis dahin mittels “Export Subscriptions” ein OPML-File mit allen Feeds generieren, das in so gut wie jeden anderen RSS-Reader importiert werden kann.
Update vom 4.11.2010: Wie heute bekannt gegeben wurde, bleibt Bloglines.com weiter online — Merchantcircle.com übernimmt den RSS-Reader, Passwort und Login bleiben gleich. Mehr Details über die Übernahme und Pläne für die Zukunft gibt’s am Merchantcircle Blog.
Grund zur Panik oder Freude?
So wenig Xmarks und Bloglines auf den ersten Blick gemeinsam haben mögen, so sehr erstaunen mich die Parallelen: für die Betreiber beider Services war die Erkenntnis, dass die Popularität und Dominanz von Facebooks Social Graph Paradigma wenig Luft für “traditionelle” Arten der Datenaggregation übrig lässt, ein wesentlicher Grund für den Druck auf den Ausschaltknopf. In beiden Fällen scheiterten Angebote, die noch vor zwei Monaten State-of-the-Art waren, letztendlich an der rasanten Weiterentwicklung des Social Web.
XMarks und Bloglines werden nicht die letzten gewesen sein, die angesichts der starken Konzentration des Marktes auf wenige Brands das Handtuch werfen. Da drängen sich durchaus Vergleiche mit der infamösen Dotcom-Blase der Jahrtausendwende auf, aber das scheint doch ein wenig voreilig.
Denn während der ersten Generation der Social Media Start-Ups ein rauer Wind ins Gesicht bläst, entstehen die ersten Business-Modelle, die den Einsatz des interaktiven Webs nicht auf den digitalen Raum beschränken. Garmz ist ein prototypisches Beispiel für diese neue “Generation” von Unternehmen, welche die Stärken des Social Web mit der alten, analogen Welt auf innovative Weise verbinden. Unkenrufer mögen bloß eine Ausdünnung der Netz-Szene wahrnehmen, ich behaupte, dass die Social Web Start-Ups 2.0 erstmals das Potential haben, eine Aufmerksamkeitsökonomie der Hoffnungen in ein viables und stabiles Businessmodell zu transferieren. Richtig Oldschool, mit operativem Gewinn und so.
Suche, Social Networking und General Interest Marktplätze gehören sowieso längst ein paar Großen (für .at-Leser: “Großkopferten”), die vorangehende Aufzählung ist quasi synonym mit Google, Facebook und EBay/Amazon. Deren Geschäftsmodelle sind kaum replizierbar, oder netter formuliert: kein Platz für Copycats und Me-Toos, dafür beginnen sich Internet und “analoge Welt” auf ganz neue Art zu verflechten und ergänzen — meiner bescheidenen Meinung nach nicht die schlechtesten Aussichten. Aber ich hab ja nie einen Hehl draus gemacht, dass ich überzeugter Medienkulturoptimist bin.
* Nein, nicht Exiti. Das passt schon so, Exitus gehört zur U-Deklination, daher lautet die Mehrzahl auch Exitus — so einfallslos waren sie, die alten Römer.
Copyright © 2010 Ritchie Pettauer / datenschmutz
Dieser Volltext RSS-Feed wird ausschließlich für die private, nicht-kommerzielle Verwendung im Feedreader bereit gestellt. Über Zitate mit Backlink freue ich mich, eine Wiederveröffentlichung des ungekürzten Volltexts auf Dritt-Webseiten ist allerdings untersagt. Wenn Sie datenschmutz Updates auf Ihrer Homepage einbinden möchten, dann verwenden Sie bitte den Exzerpt-Feed.
Wenn Sie diese Meldung auf einer Homepage sehen, wurde der betreffende Beitrag widerrechtlich und ohne die Zustimmung des Autors veröffentlicht.
Digitaler Fingerabdruck / digital Fingerprint: c1d7d6ed6691c7c25dbb043c9a689294